
Offene System-Plattformen für intelligente Fahrzeuge
Dr. Thomas Hülshorst im Gespräch über die Potenziale offener Service-Plattformen für intelligente Fahrzeuge
Das hohe Entwicklungstempo und eine enorme Produktivität der Internet-Branche haben zu einem vielfältigen Service- und Produktangebot im digitalen Bereich geführt. Einige der Dienste haben eine Monopolstellung und zugleich eine ausgeprägte Benutzerakzeptanz, sodass OEMs motiviert sind, diese Dienste in ihre Fahrzeuge zu integrieren. Damit stellt sich für die Automobilindustrie ganz allgemein die Frage, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen die eigenen Systeme für externe Dienste-Anbieter geöffnet werden sollen. Im Fokus sind dabei funktionsübergreifende Ansätze, die Agilität, Flexibilität und Durchschlagskraft aus der digitalen Welt mit der Zuverlässigkeit und Sicherheit aus der Automobilwelt verbinden. Daher hat FEV umfangreiche Forschungen rund um das Konzept einer offenen Service-Plattform (Open-Service-Cloud) betrieben. Ziel dieser Plattform ist es, die wesentlichen Erfolgsfaktoren sowie Vorteile der Open-Source-Bewegung und der Open-Innovation-Welt (zum Beispiel bei Linux oder Android) in die Automobilwelt zu übertragen.
Mit SPECTRUM sprach Dr. Thomas Hülshorst, Group Vice President Electronics & Electrification, über die Potenziale und notwendigen Rahmenbedingungen einer derartigen Plattform.
Inwiefern unterscheidet sich Fahrzeug-Software von anderen Endanwendungen?
Bei der Entwicklung von Fahrzeug-Software liegt ein starker Fokus auf Zuverlässigkeit und Sicherheit. Entsprechend wird diese auch in einem aufwändigen mehrstufigen Absicherungsprozess getestet. Gleichzeitig werden zunehmend Attribute aus Endanwendungen, wie z.B. Individualisierbarkeit und Aktualisierbarkeit, auch auf das Fahrzeug übertragen. Es wird vorausgesetzt, dass sich Software leicht an die individuellen Bedürfnisse anpassen lässt, sich an verändernde Umgebungsbedingungen adaptiert und im Fahrzeug jederzeit reibungslos funktioniert. Vom Gesamtsystem wird erwartet, dass alle Apps integriert sind und sich jederzeit updaten lassen. Die Toleranz des Nutzers gegenüber Fehlern ist im Fahrzeug deutlich geringer als bei anderen Endanwendungen.
Aus welchen Komponenten setzt sich ein Fahrzeug-Service-System zusammen und welche Funktionen nehmen diese jeweils ein?
Fahrzeugservice-Systeme bestehen in der Regel aus drei Elementen, die miteinander interagieren. Dabei handelt es sich zunächst um die klassische Fahrzeugumgebung, bestehend aus Steuergeräten nebst der zugehörigen Sensorik, Anzeige- und Bedieneinheiten, dem Infotainment-System, aber auch den Fahrerassistenzsystemen. Hinzu kommt die Kommunikationsebene, über die Informationen mit den Cloud-Diensten ausgetauscht werden, und schließlich die Backend-Serverumgebung, in der bestimmte Dienstleistungen angeboten werden können – zum Beispiel Informationsservices, ausgewählte Internetdienste oder Echtzeit-Verkehrsinformationen.
Wie könnten Drittanbieter in diese Landschaft integriert werden?
Dies erfordert zunächst eine zumindest teilweise Bereitstellung der Information über den Fahrzeugzustand und weiterer Daten, eine entsprechend angepasste Nutzung der Mensch-Maschine-Schnittstellen zur Ein- und Ausgabe und natürlich die Öffnung der Kommunikationsinfrastruktur und der Datenübertragungskanäle. Es versteht sich von selbst, dass die Sicherheit, der Datenschutz und die Datensicherheit hierdurch nicht negativ beeinträchtigt werden dürfen.
Mit welchem Aufwand ist eine derartige Integration von Drittanbietern verbunden und welche initialen Maßnahmen sind notwendig?
Die Entwicklung von Dienstleistungen oder Apps durch Dritte ist aufgrund der Interferenz mit dem Gesamtsystem nicht zu unterschätzen. Wechselwirkungen mit anderen Diensten sind teilweise schwer vorherzusagen und müssen gemeinsam getestet werden. Hier ist die FEV bereits seit Jahren ein kompetenter Partner für die Integration und Absicherung. Der Aufwand für die Dokumentation und Wartung eines solchen Systems ist erheblich und erfordert offene, gut dokumentierte Schnittstellenstandards, die breite Unterstützung finden. Um zudem Vorteile aus einer offenen Innovation ziehen zu können, ist aus unserer Sicht zunächst die Etablierung einer Entwicklungsplattform erforderlich.
Wie könnten Sicherheit und Datenschutz trotz dieser Öffnung für Drittanbieter gewährleistet werden?
Es ist möglich, ein offenes Service-System zu entwerfen, ohne Standards bezüglich Betriebssicherheit, Datenschutz oder Datensicherheit zu kompromittieren. Das Datenbereitstellungssystem des Fahrzeugs kann vollständig geschlossen bleiben. Es besteht lediglich die Notwendigkeit eines Zugangs zu einer gemeinsam vereinbarten Service-Schnittstelle. Die Fahrzeugdaten können durch den geschlossenen Teil der Kommunikationsumgebung übertragen und dann über Kaskaden von Kommunikationssystemen zu den betreffenden Diensten verteilt werden. Das Datenübertragungssystem des Fahrzeugs und die OEM-Server bleiben natürlich unter vollständiger Kontrolle des Herstellers. Wenn das Fahrzeug in einen sicherheitskritischen Zustand übergeht, muss die volle Rechner- und Übertragungskapazität für sicherheitsrelevante Dienste zur Verfügung stehen. Das Fahrzeug behält die Hoheit über die Datenübertragung und kann diese priorisieren, wenn mehrere Dienste parallel auf Daten zugreifen. Um vernetzte Systeme gegen unerwünschte Eingriffe von außen abzusichern, sind entsprechende Schutzmaßnahmen erforderlich. Die FEV hat beispielsweise zu diesem Zweck ein Sicherheits-Gateway entwickelt, welches den Datenaustausch zwischen dem Kommunikationsmodul und der restlichen Fahrzeugelektronik über parallele Hardware und Softwarelösungen gegen Eingriffe absichert.
Welche Erfahrungen hat die FEV in diesem Bereich?
FEV ist seit Jahren in der Serienintegration und -absicherung derartiger Systeme aktiv und kann zudem auf Erfahrung aus unterschiedlichsten Forschungs- und Beratungsprojekten zurückgreifen. Im Kontext zur Entwicklung von Open-Service-Systemen ist hierbei vor allem das öffentlich geförderte Forschungsprojekt „Open Service Cloud for the Smart Car“ – kurz O(SC)²ar – zu nennen. Gemeinsam mit Partnern hat FEV ein Szenario aufgebaut, in dem eine kontinuierliche unidirektionale Datenübertragung aus einer verteilten und heterogenen Flotte von Elektrofahrzeugen zu einem Energieversorger dargestellt wird. Die übertragenen Daten enthalten hier detaillierte Informationen über den Batteriestatus und den Energieverbrauch zusammen mit den Positionsdaten der Fahrzeuge. FEV implementierte mit seinen Partnern die Datenübertragung an einen Cloud-Service. In einem weiteren Projekt namens City-e erforschen und entwickeln Denso und FEV gemeinsam Dienstleistungen für vernetzte Fahrzeuge, die sowohl mit Dedicated Short Range Communication (DSRC) als auch mit Mobilfunk-Technologie ausgerüstet sind. Aus mehr als 100 Cloud-Service-Ideen wurden die vielversprechendsten in einem Open-Innovation-Ansatz auf einer flexiblen Entwicklungsplattform für eine Fahrzeugflotte implementiert und getestet. Dabei haben wir auch moderne Benutzerschnittstellen entworfen und auf ihre Eignung hin untersucht.
Ihre Studien zeigen die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit eines Open-Service-Ansatzes. Was muss konkret geschehen, damit dieser auch in die Tat umgesetzt werden kann?
Das endgültige Design eines offenen Innovationsansatzes kann aus heutiger Sicht noch nicht festgelegt werden. Zu den zu klärenden Fragen gehören das Mitgliedschaftsmodell, die Gestaltung des Zugangs zu Systemen und Informationen, eine Gebührenstruktur und mehr. Eine einfache Übertragung bestehender Open-Innovation-Ansätze ist aufgrund der hohen Sicherheitsstandards im Automobilbereich nicht so einfach möglich. Die Verwendung offener Standards und Referenzimplementierungen mit zertifizierten Lizenzmodellen (OSI) für die kommerzielle Nutzung wären ohne Zweifel sinnvoll.
In diesem Zusammenhang weisen wir auch auf die Bemühungen des W3C hin, einen Web-Standard für die Automobilbranche zu etablieren, der eine Schnittstelle für die Bereitstellung von Fahrzeugdaten für Systeme von Drittanbietern ohne Gefährdung der Betriebssicherheit spezifiziert.
